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Kurzgeschichten

Eine hochkarätige Geschichtensammlung des WienerVerlages mit einer meiner Erzählungen:

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DORNENKRONE DER EUPHORIE

Dornenkrone der Euphorie

»Was denn, jetzt schon betrunken?« Ihr Groll meckert. Sein Verlangen säuft. Das Ritual vorgereihter Unterpersönlichkeiten. Er übt sich in Reaktionslosigkeit. Schwerlich. Gedämpft von Promille und Uhrzeit. Eheliche Arrangements ersetzen die Liebe. Regeln TV-Rechte. Seine sprießende Hochstimmung weiß: Ihr gehören noch acht Minuten. Verrät das Display des Handys. Sekunden takten ihren Abgang. Zeitangaben der Peripheriegeräte im Regal unterm Flat variieren zwischen sieben und neun Minuten. Egal: 20:30 MEZ ist Match. Anpfiff für ihn. Abpfiff für sie. Crime Time aus der Buchhandlung. Mit Blut geschriebene Hausregel. Den Spagat meistern sie. Seit ihr im Streit um die Fernbedienung diese das Nasenbein gebrochen hat. Da waren es bereits sechs … sieben Bier gewesen. Wer zählt mit? Brutaler Fetzen. Quasi auf leeren Magen. In der Vorspielzeit des Konflikts auf sein rüdes »Versalzen« Teller samt Braten ungetrennt im Müll landete. Er weiß, sie das Porzellan später aus dem Kübel holte. Weiß, ihr Feuer fürs Kochen mit den Kindern ausging. Sporadisch bei deren Besuchen Leidenschaft aufkocht. Er weiß auch, die Schnapsflasche in der Kredenz regelmäßig ersetzt wird. Der Inhalt bei geschlossenem Stöpsel nicht verdunsten kann. Seit diesem – ihrem letzten Eklat – schluckt er. Eskalationsdrossel. Schuldbewusst. Schließlich war er’s, der sich der Fernbedienung zweckentfremdet bediente. War sie’s, die ihn bei der Notaufnahme im Böhler Krankenhaus als »Kellerstiege« titulierte. Fürs Protokoll. Für sein Gewissen. Über zwei Jahrzehnte, seit dem von Erwartungen und Enthusiasmus geschwängerten »Bis dass der Tod euch scheidet«. Zweimal Ja zu Nachwuchs. Oft gleichbedeutend mit der Kapitulation partnerschaftlicher Liebe. Kinder schieben die eigene Lebenszeit raffgierig voran. Silber, Gold … andere Jubiläen – dank gesellschaftlich auferlegter Unartigkeiten schier Unerreichbares. Die Konjunktur unterschiedlicher Interessen fördert Zwiste. Inszeniert Defizite. Harmonische Ehen mehr denn je in der Raritätenschaukel der Fliehkraft zum Opfer fallen. Nach – in Epochen gemessenen Ehejahren – wird viel verziehen. Nicht alles vergeben. Ein Elefant haut sich gegen den Stamm. Die monströse Baumwuchtel erfolgt bloß durch den Schädel. Stoßzähne schieben sich an der Rinde schrammenlos vorbei. Besser vier bis fünf Kilo Gehirn erschüttern. Die von Natur fix gebuchte African Party wird die Funktionalität ohnedies belämmern. Dumbo nicht dumm. Giert nach reifen Früchten. Schont den Baum. Der momentan zum verholzten Wackelpudding gedroschene heißt ja auch Elefantenbaum. Die Langhalsigen laben sich längst an den Wipfeln. Fressen sich systematisch ins Innere vor. Im Astwerk schmatzen pelzige Akrobaten. Im Gehabe Menschen nicht unähnlich. Hängen da mit gierig triefenden Mäulern. Kraft stockt auf. Ein zweiter Elefant wirft sich von gegenüberliegender Seite gegen den Namensvetter. Gegen die Fresskonkurrenz. Der Baum hat null Chance. Biegt sich dem Highlight. Dem saisonal wiederkehrenden Ansturm auf sein exklusives Buffet in der subäquatorialen Region Afrikas. Gibt seine Heiligtümer frei zum Fall. Von der Evolution so konzipiert. Aller Fortkommen sichert. Die Giraffen treten respektvoll zurück. Ihnen sonst die Äste brachial um die Ohren geschüttelt würden. Gleich Ohrfeigen. Affen purzeln gemeinsam mit Hunderten überreifen Marula-Früchten haltlos zu Boden. Minderprivilegierte animalische Festgäste applaudieren still. Fehlen Kraft, Geschick oder überragende Eigenschaften … siegt Geduld. Bewährt sich Beharrlichkeit. Die Natur versorgt ohne arrogante Eingriffe sämtliche Spezies. Sie erkennt die Menge belüfteter Dosen an der Art, seine Beleibtheit aufs Sofa schlägt. Offenes Bier plus Fresskorb vorher auf dem Couchtisch gesichert. Sein von der Waage verifiziertes, von ihm ignoriertes Schwergewicht die Federkerne fordert. Ihre unbestrittene Leichtigkeit in Bewegung setzen. Der Trampolineffekt wirkt nach Viertem. Er brachte den Mief einer Schnitzelbude mit nach Hause. Frittieröl überm Zenit. Neunzig Minuten Spielzeit. Pause. Verlängerung. Werbung für Alkohol- und Spielsüchtige. Analyse samt gekeuchter Interviews. Am Ende zehn bis zwölf. Halbliter wohlgemerkt. »Bin ja nicht zum Rennen geboren«, argumentiert er. Der Kühlschrank steht noch in der Küche. Einbau. Sport wird übertragen. Vom Flat. An den Flat. Selbst aktiv war mal. Körperliche Aktivität macht hungrig. Außerdem weiß er, Bier wampenmäßig anschlägt. Also isst er weniger. Manchmal. Sie sich nach derlei Sportexzessen Marke Couchpotato erst gar nicht an den Herd stellen braucht. Die Zahl der Tat, in Stück, weiß sie am Morgen. Rund zweihundert Kalorien mal Dosen. Wäre ihr grundsätzlich egal. Müsste sie nicht das Alu in den gelben Sack quetschen. Da zählt frau instinktiv. Er kennt aller Bierträger-Stellflächen aller Supermärkte. Ihre Bandscheiben die Beschaffung als unverträglich verweigern. Nicht ihre Gewichtsklasse … auch peinlich. Für die Entsorgung steht sie. Mülltrennung aus Verantwortung. Er hat da kein Problem. Meint, Müll spielt in Zeiten wie diesen auch keine tragende Rolle mehr. In jungen Jahren säuft man zehn Dosen. Prahlt mit fünfzehn. Wenn die Routine mal auf fünfzehn ist, rundet man auf zehn. Dann kauft er noch kiloweise Chips, Crackers und sonstigen gefetteten, gesalzenen Mist. Sie nach dem Play-off Krümel von Sofa und Teppich saugen darf. Und Nüsse! Walnüsse aus Amerika. Da geht sie dann in Saft. Kann ihre Erbostheit schon in »Fauler Sack« artikulieren. Bei ihm von Ohr zu Ohr durchzieht. Das Synonym für »Behältnis voll Vergorenes« noch höflich. Gedanken liefern kraftvollere Ausdrücke. Über Trump meckern: dessen Mimik allein einiges offenbart. Dazu seine Rhetorik. Medien den antimenschlichen Ami-Slang übersetzen … zumindest ausgewählte Passagen. Aber noch schlimmer: Nüsse aus den USA importieren! Der Handel ist korrupt. Gierig sowieso. Produkte stets nachhaltig und bio. Neuerdings wirbt sogar ECHT BIO! ums heimische Kaufvolk. Sie verspottet auch ihn, ihren Ehemann. »Eine Schande für Österreich!« Bürger sich per Gesetz um Tierexkremente beugen. Doch zu bequem, um sich naturgesetzlos unter landeseigenen Nussbäumen zu bücken. Gratis wirklich mal gratis wäre! Schön für heimische Nagetiere, Mäuse, Eichhörnchen. Der Rest des sogenannten Hirnfutters verrottet. Energie für Kleinlebewesen. Mikroben die Welt nicht retten. Diese als Facility-Dienst der Evolution wenigstens sauber machen … werden. Vom Baum rieseln reife Marulas. Von Elefantenkraft gefördertes Fallobst. Affen plumpsen haltlos vor den Früchten zu Boden. Als Sieger der physikalischen Formel: Gewicht, Fallstrecke, Schwerkraft. Das Ergebnis prasselt als Obstregen auf sie hernieder. Unsere beschwipst wirkende Verwandtschaft hat bereits einen Vorsprung. Unkoordiniert wirken ihre Bewegungen. Silbern verklärt ihr Blick. Giraffen, körperlich ebenfalls für den Aperitif prädestiniert, bedienen sich wieder ungestört an den im Baum hängen gebliebenen Marulas. Die Kamera fokussiert lange Beine. Staksen und wackeln wie Stelzengeher bei ihrer ersten Übungsstunde. Der Baum kommt zur Ruhe. Die Tiere in Bewegung. Eine Masse kommt zum Fraße. Nashörner, Nilpferde, Antilopen, Zebras … und der Rest der Dschungelbande. Erst wenn reif auf dem Boden. Gar fermentiert. Dann gibt’s Party im Tierreich. Die Bar ist offen. Das begehrte Obst in der Größe von Äpfeln, vom Geschmack eher säuerlich … ist wie: Freibier für alle! Der Schrei der Wildnis. Die Dickhäuter werfen sich ins Gemenge. Rüssel fördern gleich einer Baggerschaufel Früchte vom Boden zu Mäulern. Gierig. Schnell. Große Leiber. Große Mengen. Alles stürzt sich auf die Ware. Niemand auf den anderen. Das Fressgelage im Übermaß macht sie zu Gefährten. Friedlich. Ihre Beine zieren die Ottomane. Entblößt bis zum Schritt. Sie hat sich gehalten. Grazil. Frauen trinken Gin. Wenn sie glauben zu müssen. Gin riecht nicht. Schlägt nicht auf die Taille. Schwingt maximal in der Hüfte. Bis die Zellen ausgenüchtert sind. Tragweiter dagegen: Bier ohne Maßen. Brauereien werben mit Sport und schlanken Bodys. Großkellereien importieren und pantschen. Destillaterzeuger füllen Steuertöpfe und Kliniken. Drogenkartelle köpfen sich gegenseitig mit Kettensägen. Konsumenten tragen die Verantwortung. Denn sie bezahlen. Sie opfern sich der Sucht. Geführt oder freiwillig?! Das Möbel ist von Nacktheit unbeeindruckt. So auch er. Fiebert anderer Berauschung entgegen. Beine als laufende Bilder. Hochversichert mit Stutzen und Schützer. Ihren würdigt er keines Blicks. Noch vier Minuten ... oder fünf. Seine Hand fummelt zum Sack. Ihre zum Polster. Bloß in Gedanken. Ihn damit zu ersticken. Denn: Cracker knistern. Brösel sammeln sich für ihre morgige Saugsession. Seine Hände. Waren mal zärtlich. Kreativ. Vermochten ihren Körper in Ekstase zu versetzen. Früher. Diese Zeiten waren besser … definitiv. Ohne Diskussion. Ohne Aufweichen gängiger Klischees. Dem »Früher war alles besser …«-Scheiß! Keine Soap aus der Kiste toppte die Liste ihrer Verführkünste. Keine Sekunde hätte er sie so rechts liegen gelassen (links fügte sich die Ottomane nicht ins Zimmer). Wie jetzt. Apathisch den vergebührten Output des Bildschirms fixierend. Ihre Jahre … die jungen … die wilden! Exzesse ohne Alkohol. Drogen sowieso nicht. Sie verachtet diesen Rausch. Seinen. Die Fahne flattert nicht im Sturm der Leidenschaft. Sie stinkt aus seinem Mund. Graust ihm auch vor ihr? Was ist mit ihrer Euphorie? Krimis lesen ein unbefriedigender Ersatz. Seine fettigen Finger … bloß noch eine Fressschaufel. Dosenöffner. Tastendrücker. Sie ist Mitte vierzig. Das kann’s ja noch nicht gewesen sein! Sie denkt an sexy beast Gerlinde. Immer häufiger stützt die Freundin wie eine Triumphsäule ihren Gedankenpalast. Erinnert sie an Fontänen ihres eigenen Lebensbrunnens. Vulkanausbrüche der Leidenschaft. Den Eruptionen ihrer Begierden. Bis zur Erschöpfung haben sie sich verkörpert … geliebt. Das Endorphin der Lust ist kein Privileg der Jugend. Resignation nicht automatisch die Geisel des Welkens. Gerlinde ist raus aus der Wüste der paarweisen Einsamkeit. Glücklich geschieden. Das Wort glücklich betont. Vergeudet keinen Nerv an den Ex. Gestern ist vorbei. »Wenn Männer Blechdosen bevorzugen, haben sie uns nicht mehr verdient.« Sagt sie. Ein wenig vulgär. Mag sein. Doch hörbar intoniert von Glück und Befriedigung. Metall auf zerkratztem Glas … wenige Minuten vor Anpfiff … ist Sieger des Abends. Hopfen und Malz … dank des Gehalts … töten jede Sinnlichkeit. Sie bedeckt sich. Ein dünner morscher Ast auf dem Boden reicht. Ein Affe stolpert … ungelenkig auf die Schnauze. Patsch. Ein gieriger Rüssel schiebt ihn zur Seite. Wie ausgezählt. Kriegt er es noch mit? Ein innig verschlungener Klüngel von Affen schläft. Abgefüllt. Die Vorderbeine eines Dickhäuters sinken hernieder. Stoßzähne bohren sich stützend in die Erde. Sein Rüssel rotiert wie ein ausgekommener Feuerwehrschlauch. Fördert unaufhaltsam weiter. Noch lange nicht genug. Ein Nashorn torkelt. Das Horn versagt als Visier. Antilopen schwanken kauend durch die Schar die Festgäste. Die Reiher schlafen heute vermutlich auf dem Boden. Ein Flusspferd reißt das Maul auf. Und wäre das Bild mit Ton, erklänge wohl ein ungeniertes lautstarkes Rülpsen durch die Steppe. Heute sprechen sie alle dieselbe Sprache. Fressen bis zum Umfallen. Werden die Samenkerne der Früchte quer durch Afrika kotzen und scheißen. So funktioniert Natur. Das ist die Zeche. Alles hat seinen Preis. Und sichert ihren Nachkommen das jährliche Sommergelage unter all den prächtigen Marula-Bäumen in der Wiege allen Lebens dieses Planeten. Sie amüsiert sich. Er geduldet sich. Die Sendung hat sie schon mal gesehen. Berauschte Tiere?! Ist angeblich ein Fake. Elefantenfraß längst durchs Hinterteil flutscht, bevor es im Magen zu einem Alko-Gebräu gären kann. Gekünstelt wie Charlie-Chaplin-Filme. Illustre Unterhaltung. Die Macher füttern … kassieren. Das Publikum frisst … löhnt. Wer weiß denn heute noch, was in den Medien echt ist? Außer der Strom- oder Papierverbrauch?! Eine Doku über die versoffene Tierwelt. Füllprogramm vor einem Finalspiel. Millionen Zuschauer. Die auf den Untergang der menschlichen Spezies programmierte künstliche Intelligenz bestimmt offensichtlich auch schon das TV-Programm. Legitimation vom Suff. Mit einem feinen, aber prägnanten Unterschied. Kaum noch wer sensitiv genug ist, diesen zu bemerken. Ein zwischenzeitlicher Kick im Leben oder komplett aus dem Leben gekickt. Eine frische Dose zischt in Richtung Delirium. Männer spielen Fußball. Männer schauen Fußball. Fußball ist Krieg. Zwei Mannschaften kämpfen. Gegeneinander. Um den Sieg. Männer kämpfen immer um dasselbe: Trophäen, Geld, Macht und Weiber. Ein Unentschieden schmeckt wie alkoholfreies Bier. Lau. Wie Frauen, die sich um einen Ball raufen. So exotisch wie quotenschwach nachgewiesen … uninteressant. Im Publikum unterworfene Diätdrinks nuckelnde Ehemänner, hartgesottene Ehefrauen oder beschämte Kinder von kämpfenden Müttern. Zwei Minuten. Die Tiersendung ist aus. Werbung schlägt ein. Sie weicht. Endlich, denkt er. Er verabscheut ihre Lästereien. Über spuckende, hoch bezahlte Ballexperten. Auf dem Rasen. Rundherum. Schiebereien der milliardenschweren Wettbetreiber. Hinterfotzige Fouls der Spieler. Offensichtliche Ungerechtigkeiten. Fans animieren, sich gegenseitig Zähne auszuschlagen. Deren Gewaltorgien sich für Schlagzeilen qualifizieren. »Da hast du’s! Sogar Viecher saufen. Aber über mich mokieren?!«, ruft er ihr nach. Fühlt er sich bestätigt? Derlei Dschungelexzesse vorbildlich? Rechtfertigung für seinen Blechverschleiß? Was sie denkt, ist sprachgehemmt durch Diskretion. Weniger diskret … gar hemmungslos drückt sie die Tür in die Zarge. Demonstrativ. Geräuschvoll. Ihrem »Und lass gefälligst die Tür zu. Den Krawall hör ich bis rauf!« fehlt das »bitte«. Ist wie das Wort »danke« aus ihren Dialogen verschwunden. Konversationen eskalieren zu Kontroversen. Er wird die Tür wieder offen lassen. Berechenbar den Kühlschrank plündern. Dose für Dose. Hurtig. Es könnte ein Tor fallen. Aufgerissen wird hastig. Warum? Die Spritzer seiner Hemmungslosigkeit gehören dann ihr. Eingetrocknet auf der Glasplatte. Sie entschwindet Richtung Schlafzimmer. Oder flüchtet? In ihres. Seit die Kleinen groß draußen sind. Getrennte Wecker. Sein Problem. Sie steht auf, wenn die Automatik das Garagentor schließt. Ausweichmanöver als Prävention. Ein Trauerfall. Die Inschrift auf dem Grabstein ihrer Beziehung: »In Gedenken der Liebe und Lust«. Die Erinnerung auf ewig im Speicher. Das Damals. Sex on fire. Auf dem Küchentisch. Auf dem Teppich. Überall. Nach dem Frühstück. Währenddessen. Ausreden in der Firma. Er kam oft zu spät. Nicht bei ihr. Da kam er gefühlt richtig. Sie, glückselig, verschütteten Orangensaft vom Boden wischen durfte. Oder sonstige Säfte. Dehnte ihren ekstatischen Taumel unter der Dusche. Wie lange ist ein Hengst ein Hengst? Wann ist er als Gaul fällig für aufgebackene Semmeln? Sie legt das Handy aufs Nachtkästchen. Im Wissen: nicht klug. Manchmal dreht sie den Smog ab. Doch dann fühlt sie sich ausgeschlossen. Abgenabelt von der Außenwelt. Wie tief kann ein Mensch sinken? Ein Übel in der Not. Der aufgeschlagene Kriminalroman ist nicht fesselnd genug. Ihr Leben ist in Fesseln. Gar in Ketten? Hat es während der Doku nicht gepiepst? Tatsächlich. Zwei Messages auf WhatsApp. Gerlinde. Das Fragezeichen hinter dem Wort Champignons Leaque erreicht sie zynisch. Falsch geschrieben. Absichtlich. Text zwei: »Du armes Schwammerl« buchstabiert sich provokant. Schallt wie eine Lawine von Ohrfeigen unter kalter Dusche. Die Freundin meint es gut. Während sie liest, ploppt die nächste Nachricht auf. Ein Selfie aus einer Bar. Hinter Gerlinde ihr Neuer. Fescher Bursche. Herr der Oase. Seinen Namen … äh, hat ihr Neid verdrängt. Er knabbert an Gerlindes Ohr. Vorspiel? Nachspiel? Sex. Dieses glückliche Miststück. Die kuschelnden Affen von vorhin fallen ihr ein. Ganz sicher haben sie es im Rausch getrieben. Sex and Drugs. Substanzen, wovon auch immer. Die Spaßbilder fraß die Zensur. Sicher. Und gut so. TV-User werden immer jünger. Der infantile Volksanteil hängt immer mehr … immer länger vor ausgelagerter elterlicher Verantwortung. Sie legt das Telefon zur Seite. Hände kuscheln sich unter die Decke. Schieben ihr Negligé hoch. Berühren. Keine Regung. »Vertrocknet«, murmelt Frustration über ihre Lippen. Wüstenleib. Wüstenplanet. Bald schon die ganze Erde? Die Staubschicht auf der Box mit Taschentüchern auf dem Nachtkästchen entlarvt einen eklatanten Teil der Ewigkeit. Wann hat sie sich das letzte Mal ihm hingegeben? Ihrem Ehemann? Nie … niemandem sonst. Sie könnte Bob Dylans 60er-Hymne eine leidige Fragestrophe hinzufügen. Eine ganze Welt wartet auf vom Winde verblasene Antworten. Kling. Nächstes Foto. Ein Lokal voller Leute. Viele Gesichter. Auch Männer. An Abenden wie diesem trifft man hier schwerlich auf den Falschen. Männer mit anderen Interessen als die Zentnerlast unten im Wohnzimmer. Nichts als Lärm zu erwarten ist. Ein anderes Gefühl erregt. Plötzlich. Wut. Die Steppdecke büßt. Brachial gestoßen. Sanft auf dem Parkett gelandet. Da liegt ihr Körper. Nackt. Brach. Im Doppelbett. Sie dachten ernsthaft, der Kick der räumlichen Trennung geilt wieder auf: zusammen. Sie schreibt Gerlinde. Sekunden später schleicht sie nach unten. Radau stürmt durch den Türspalt. Heute ist Entscheidungsspiel. Wer holt den Pokal? Wer tritt den Titel der Vorherrschaft ab? Er spielt nicht mehr mit. Sie hört seine Stimme. Aufgewühlt. Erregt. Er hängt am Telefon. Vermutlich auch im Chat. Vor Corona trafen sich Männer zu gemeinsamen Fernsehabenden. Mal da. Mal dort. Der Virus digital vernetzter, kontrollierbarer Bequemlichkeiten wurde eingeimpft. Der Austausch ist wichtig. Schließlich wissen Zuseher immer die bessere Taktik. Sie schließt die Badezimmertür. Erstmals vermisst sie den Schlüssel im Schloss. Bislang wozu? Ein wenig wird sie auflegen. Dezent. Ihre Reize unterstützen. Nicht verfälschen. Für Oberflächlichkeit ist sie einen Tag zu alt. Ein Griff in die Kredenz. Ein Schlückchen Mut. Minuten später schlüpfen ihre Füße in schicke Pumps. Ein Tuch verwischt den Staub der Bedarfslosigkeit. Gold-Anthrazit. Passend zum roten Kleid. Rot? Warum nicht? Die Muschelkette nimmt sie wieder ab. Es heißt, sie seien ein Symbol für Frigidität. Ein zartes Goldkettchen. Der Anhänger blickt in ihr Dekolleté. Das Parfüm verstaut sie in der Handtasche. Das wird sie später auftragen. Frisch. Ein Blick in den Vorzimmerspiegel. Der Spiegel sagt: hübsch. Wünscht er ihr viel Spaß? Einen neuen Lebensabschnitt? Sie grinst. Breit. Sehr breit. Der Spiegel grinst noch breiter. Ihre rasch getippte Antwort auf Gerlindes Mitgefühl lautete: »Mädel! Gib mir dreißig Minuten!« © 2024 Siegfried Schwartz

Zweiter Platz beim Schreibwettbewerb 

3. Oktober - Deutschland singt und klingt

SCHLACHTEN IN DER SCHLEIFE

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Bilder Copyright "3. Oktober - Deutschland singt und klingt"


Schlachten in der Schleife

Fassungslose Blicke jener, auf die man anlegt. Augen, Reflektoren von Hass, Verzweiflung, Angst …zerschießen mein Innerstes. Gleich den Patronen, deren ausgediente Stahlhülsen fast lautlos den Boden treffen. Ihren grausigen Dienst, ergänzt um beißenden Pulversmog, aushauchen. Endgültig. Wie der Delinquenten Leben. Zeitweise waren deren Augen verbunden. Schlafen Mörder dann besser? Meine Gespenster der Vergangenheit poltern. Gnadenlos. Scheuen nicht das Tageslicht. Die Zeichen, ständig präsent. Auch jetzt. Ukraine. Wochen nach der sowjetischen Offensive. Ein Wagen auf der Wagramer Straße, stadteinwärts vor mir. Rot! Rost wie Zeit mindern die Qualität des Lacks. Das Pickerl aus einer Hinterhofwerkstatt im Überlebenskampf? Wer weiß?! Vielleicht nur ein anderer Bezug zur Wertigkeit von Mobilität? Oder Widerstand gegen die technisierte Entmündigung? Vorurteile sind die renommiertesten Platzhalter für Wissen. Auf der Heckscheibe der Karre pickte kein Bekennerschreiben zu einer gewissenhaften Fahrweise. Kein: »Kevin an Board«. Kein: »Bremse auch für Tiere«. Scheibenfüllend prangerte ein von Hand bemalter Pappkarton. Blutrote Letter schrien: »Putin ist Hitler.« Die Aussage im Sinne absurd. So sinnentleert wie all diese territorialen gewalttätigen Überfälle und Missachtung der Völkerrechte. Kein Mensch ist ein anderer. Selbst ein zweites ›s‹ würde hinken. Bedingt eine Konservierung des Zweitgenannten. Beschwerlich genug, dessen vergammeltes Gedankengut aus der verzerrten Finsternis ins Licht der Sonne zu bringen. Unter Verzicht auf künstliche Flutlichtanlagen, deren Licht- und Schattenspiele, zielgerichtet auf Details und Gewissen, den Zugang zur Wahrheit beharrlich verblenden. Doch zurück zur jüngsten Vergangenheit. Des Wagens Kennzeichen begann mit W. Nicht UA. Deren zurzeit zahlreich in Wien. Vollgestopft mit Hab und Gut. Oder nur mit Leben. Keine Zeit blieb. Tausend und mehr Schüsse pro Minute aus nur einer Waffe! Einige Gerettete finden Asyl in unserer Wohnung. Bis zu erwähntem Zeitpunkt hatte ich keinen Dunst: Natascha hat ukrainische Wurzeln! Siebzehn Jahre sind sie und ich ein Wir. Ungetraut vertraut. Verzichten auf den standesamtlichen Status wie auf den Segen der Kirche. Verbunden durch unsere Herzen und unser Engagement für Menschen, Tiere und Umwelt. Wir reden über die Gegenwart. Das Notwendige über die Zukunft. Kaum über unsere Vergangenheit. In nur zwei Monaten lernte Natascha die Sprache ihrer Ahnen. Es lag ihr im Blut. Ich dagegen habe in zwei Jahren Serbokroatisch gelernt. Seit meiner Rückkehr, vor gut dreißig Jahren, kam davon kein einziges Wort über meine Lippen. Verhalten. Nicht verdrängt. »Wer bist du, Vordermann? Ein Vater? Ein Bruder? Ein Geflüchteter? Ein Spion? Welche Schandtat dieser Welt meinst du, mit deinem lahmen Gleichnis verhindern zu können? Kennst du Wladimir Putin? Was weißt du von Adolf Hitler? Hast du überhaupt Ahnung? Vom Krieg? Durchschaust du die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Anstifter? Das weltumspannende Konzept der Oligarchie? Weißt du um den seit Jahrzehnten rotierenden Konflikt rund um die Ukraine?« Spricht er überhaupt meine Sprache? Meine Sprache?! Die Rotphasen zu kurz … gar Impulsgeschwächt von Metallicas: Suizide & Redemption aus den Boxen … ich nicht aus meinem Auto sprang, um die Tür des Vordermannes (der Lenker erschien im Außenspiegel definitiv männlich) aufzureißen, um Antworten zu erhalten. Allenfalls war er bloß ein Follower der Mantras der Propaganda. Oder ein Wichtigtuer. Den ganzen Tag durch die Stadt protestiert, fernab der Verbrechen in der Ukraine, bis ihn die Polizei abmahnt. Denn hätten sie ihn bestraft – bei der abgefuckten Karre aufgelegt –, wären sie vermutlich als Nazis auf den neuzeitlichen Scheiterhaufen verheizt worden. Jener Zündler, die uns auflagenstark und digital den Unterschied zwischen den Guten und den Bösen suggerieren. Ich weiß, was Krieg bedeutet. Das Instrument ewiger Disharmonie. Hab’ Schlachten erlebt. Sah die Leblosen auf Feldern, in Gräben und Bombenkratern. In ausgebrannten Wracks. Zerstörten Häusern. Erfror angesichts der geisteskranken Lust der Misshandlung und Vernichtung. Inmitten der Abnormität und Sittenlosigkeit. Jetzt, nach notgedrungener Auseinandersetzung, zu lebenslänglich verdammter gewissenhafter Aufarbeitung, meine ich die Hintergründe erkannt zu haben. Seit Jahrtausenden dieselben sind. Wohl mit Übel auch so bleiben werden. Verabscheue Bilder und Berichte menschlicher Verwahrlosung. Und ist keineswegs Gleichgültigkeit, die mich abstößt. Es ist mein ganz persönliches Martyrium. Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine nähren den Teufel in mir. Seit Frühjahr 2022 thront er hämisch, von Massakern frisch gefüttert, in meinem Domizil. Mitunter einem Matratzenlager gleicht. Unsere Kleiderkästen, nun halb leer, waren ohnehin zu voll. Werde bombardiert mit authentischen Erzählungen, Handyfotos von Heimen und vertrauten Menschen, wie sie sind … oder bis vor Kurzem noch waren. Der Folterknecht schafft es in seinem digitalen Auswuchs bis zu Natascha und mir ins Schlafzimmer. Jedes Läuten rattert wie eine Gewehrsalve. Jede WhatsApp-Nachricht gleicht dem Einschlag einer Granate. Wir tun gewiss Gutes. Ich fühle mich dennoch miserabel. Und hätte nie so kommen dürfen. Mach dir einen Plan. Dein Schicksal jedoch grinst dir hinterfotzig in die Visage. Ich hatte Pläne. Wusste jedenfalls, was ich nicht will. Leben und enden wie der Baierl Joschi. Er besaß die Zimmerei in meinem Heimatort. Bruder Karl das Sägewerk. Ein Nest, in das es meine Großeltern nach einem dieser vielen Kriege verschlagen hat. Es hier Arbeit gab. Die Kleiderfabrik ist weg. Die halbe Ortschaft ist weg. Vater blieb. Auch wegen Mutter. Stadtflüchtling. Entgegen dem Stream. Verliebt in Land und Ort. Er durfte sein Lebtag pendeln. End to end mit dem Kaiser Franzl seiner Bahn. Jeden Tag. Nichts mit Homeoffice seinerzeit. Meine drei Jahre schuften für Josef den Zimmermann – in den Niederungen von Leibeigenen – nannten sich Lehrzeit. Sein Geschimpfe über Unzulänglichkeiten, Lernen und Lehren nun mal an sich haben, stand einer Peitsche um nichts nach. Wäre nicht diese sonntäglich heilige Ruhe, das Gebot, Glockengeläut und Gebetsgemurmel nicht mit Nagel-Schussapparat und Kreissägen zu peinigen, hätte ich diesen Tag nicht frei gehabt. Da schleppte ich Oma zur Messe. Intuitiv nicht wegen des Rituellen. Gewissenhaft, sie, nach geschätzt 100.000 Stunden an der Nähmaschine, mit arthritischen, zerstochenen Händen, wie ihr ans Kreuz genageltes Liebkind, meiner Gehhilfe bedurfte. Sie war gütig. Auch zufrieden, vorausgesetzt, sich irgendeiner der mobilen Prediger auf seiner apostolischen Bezirks-Rallye mit einem Sack Hostien und einem Doppler G’wasserten einbremste. Sonntags in der vom Verfall gezeichneten Ortskirche das Leiden Christi to go zelebrierte. Der Präsenzdienst rettete mich davor, als jüngster Burnout-Kandidat Schlagzeilen zu machen. »Jüngste« als Kandidaten ins Rennen um Reputation zu schicken halte ich für ein Kuriosum. Jugend ist ein Privileg. Gewiss kein Garant der Tugendhaftigkeit. Ob als Kanzler oder wie in meinem Fall als Soldat. Die Missachtung von Reife sehe ich vom Start weg verurteilt zum Scheitern. Und stehe selbst für den Beweis. Bei Unserem Heer mustern sie fast alles, was in die Panier passt. Heute sogar Mädchen. Oder so was in der Art. Ich gebe zu, das uniformierte Dasein kam prickelnder als die Rückkehr zum Baierl. Vergleiche: drei Jahre, mitunter bis zu sechzig Wochenstunden, harte Knochenarbeit. Und hätte Vater dem Knabenschinder bei Wirt und Bier nicht energisch das Wort Urlaub ins Gewissen buchstabiert, wäre ich auch um den umgefallen. Für den kontra-evolutionären Mechanismus der militärischen Befehlskette, Unterwerfung sich kompetenzlos an Sternen festkrallt, war ich mit Leichtigkeit gerüstet. Verpflichtete mich als Zeitsoldat. Der Sold aus der Staatskasse für null Arbeitsleistung akzeptabel. Wenn nicht in der Kaserne oder auf dem Schießplatz, haben wir draußen die Stöpsel knallen lassen. Ich eroberte Tanja. Meine erste feste Freundin. Mobilisierte mich mit einer Honda Enduro. Mietete eine Wohnung. Es waren meine unbeschwertesten Jahre. Ich habe es nicht gewusst. Sommer 1992 telefonierte Vater mich aus meinem Lotterdasein. Zitierte mich in die Einschicht. »Den Joschi hatʼs vom Dach gʼhaut. Die Beisetzung ist den Samstag.« Eine Frage des Anstands. Sah ich gegenteilig. Vaters Wunsch Pflicht. Dies sind nun mal die dörflichen Spielregeln. Ich tachinierte mit meiner Truppe gerade in Allentsteig. Frischgebackener Zugsführer … ergo drei Kekse auf dem Rockkragen … der Urlaubschein ging problemlos. Ein Manöver ist Kriegsspielen mit Krach und Flurschäden. Ein abgängiger Soldat wegen der Beerdigung eines Zivilisten keine Gefährdung der Staatssicherheit. Quasi ums Eck warʼs auch. Ich erschien zum Begräbnis in Uniform. Waren meine Eltern stolz? Laut Helfer fiel dem Baierl oben am Giebel plötzlich die Druckluft-Nagelpistole aus der Hand. Dann griff er sich ruckartig ans Herz. Den Blick hat Werner zwar in seinen Worten geschildert: »… meiʼ, leck den Teufel, der hat dreingʼschaut wie ein Ochs, wennʼs blitzt …«, aber ich hatte den Joschi gut gekannt. Bringe es mit Pietät auf den Punkt: Aus dessen Augen quoll das Unverständnis der Gegebenheiten. Es dürfte ihm gar nicht geschmeckt haben, der freche Tod während der Arbeit anklopft. Er war einundsechzig. Den Rest besorgte der freie Fall. Genickbruch. Der Leichenbeschauer durfte wählen. Das Unglück in der Statistik der Herzinfarkte oder Arbeitsunfälle zu verewigen. Die Leiche keine Stunde unter, zog mich Karl nach dem Schmaus beiseite. »Horch, Gruaber Spezi … « Mein Vorname, bei uns nur jede zweite Generation im Repeat-Modus, war den meisten im Ort zu heilig. Opa Nickerl, zwar krumm wie Quasimodo (von der Last der Stoffballen, nicht erblich), aber ansonsten noch quietschfidel. » … der Joschi hat viel auf dich gʼhalten. Zwei Mille und Hof und Werkstatt gʼhören dir.« Er durfte das. War Bruder und Erbe. Kinder: negativ. Zumindest nichts Offizielles. Frau Baierl war vor ewig rechtskräftig in die Stadt geschieden. Der Klassiker: Eifersucht. Der Joschi sei allein mit seinen Holzbalken verheiratet. Die zwei Millionen, seinerzeit Schillinge, rumorten. Die Selbstständigkeit reizvoll. So spontan kam mir ein Impuls. Ich kaufte den Bauern ihre alten Stadel ab. Zu Hunderten standen sie hier und in umliegenden Dörfern. Teils unbenutzt. Dem Verfall trotzend. Relikte einer Epoche, als Bäume noch per Hand nach Mondzyklen geschlägert wurden. Nicht die Holzindustrie automatisierte Schlägertruppen in ihrem Verwüstungsfeldzug gegen die Natur in die Wälder trieb. Für die immer monströseren Traktoren und Landmaschinen waren die Schupfen ohnehin zu filigran. Wurden zunehmend durch Beton und Blech ersetzt. »Ablösen, Abtragen, aus Brettern und Balken Gartenhütten bauen. Die Leute stehen auf so Retro-Schnickschnack, glaub mir.« Vater war begeistert: »250.000 haben Mutter und ich auf der Kante.« Er meinte schenken. Verborgen bringt Sorgen. »Zu früh. Ich hab noch keinen Groschen gespart.« Ich wollte weder beim Karl betteln … das Angebot schien fair … noch in diesem Ausmaß der Banken Schuldknecht werden. Habʼs familiär leidig mitbekommen. Grad mal vier Jahre her, die Hypothek getilgt und aus dem Grundbuch verschwunden ist. »Dann machʼs wie der Bruckner. Rennt dir ja nix davon.« Vater meinte Peter den Großen. Ich nannte ihn so. Fand ihn immer schon tough. Gewinnertyp. Wenn sein Onkel Elmar abdankt – gemeint ehrenamtlich, nicht leiblich –, wird Peter fix nächster Ortvorsteher. Jahre war er auf den Golanhöhen UNO-Soldat. Kam zurück … da war ich grad mal Hauptschule. Haus gebaut, geheiratet, sich fortgepflanzt. Jetzt repariert er Autos, Traktoren und sonstige Anlagen und Gerätschaften. Nebenher wartet er noch Melkmaschinen. Damit die Saugzapfen, die man den von Medikamenten aufgeschwemmten Kühen an deren Euter fixiert, ergiebigst funktionieren. Bei Joschis Beisetzung hat mir Peter salutiert. Dies war das letzte Vater-Sohn-Gespräch auf Augenhöhe. Unser visionärer Business Run, zerschossen mit scharfer Munition. Gewissenlos vereitelt wie Mutters biologisch bedingtes Herzflattern: ihr Bub im Ort haften bleibt … Familie … bestenfalls glupschäugiges Krabbelvolk? Deren Unschuld oft dahin, bevor ihr Sprachvermögen daher. Nicht angelegt. Auch später nicht. Natascha war einunddreißig, als wir uns verliebten. Hellblauäugig, blond und weißhäutig wie ein Albino. Sie strahlte im Mondlicht wie ein fluoreszierender Engel. Mich keine finsteren Gedanken heimsuchten, wenn ich ihren Körper berühren durfte. Der Zug. Abgefahren. Dachte ich. Doch die biologische Uhr ist tückisch. Schlägt einem mitunter schockartig: »Du wirst Vater!« Mein Lächeln war bloß eine Reflektion auf ihre Freude. Punkto Frost so resistent wie die Arktis, beim Versuch, ihr mit dem Schneidbrenner den Garaus zu machen. Abortus im fünften Monat. Was hat dieses Wesen gespürt? Es die irdische Landung verweigerte? Die Zeichen? Ein unbedachter, verheerender Schritt … den setzte ich Tage später in Allentsteig. Die Bewerbung zu den Blauhelmen, sprich: UN-Friedenstruppen, wäre Formsache gewesen. Des Teufels Lockruf kam aus dem Munde eines Kameraden: »Die zahlen besser.« Der Preis der Torheit war hoch. Die Connection lief über Deutschland. Wir ließen uns beide anwerben. Mein Kumpel sprang Tage vor dem Treffen in München ab. Weiche Knie? Jemanden ins Vertrauen gezogen? Ich nicht. Im Gegenteil. Der Dämon bediente sich meiner Stimme: »Feige Sau!« Diese Worte, mein Stolz … auch Sturheit … jedenfalls eine Menge Flaschen Bier kappten meinem Ego den Rückzug. Im September 1992 trug ich eine kroatische Uniform, eine scharf geladene Waffe und verkaufte auf dem Balkan dem Teufel meine Seele. Die Gruppendynamik der Armee war ein morbider Selbstläufer. Soldat gehorcht. Soldat funktioniert. Hinterfragen galt als militärisches Sakrileg. Das Bestialische erstickte das Menschliche. Seitdem hänge ich in seiner Schleife. Wie die Kriege der Menschheitsgeschichte. Lediglich die höllischen Schauplätze wechseln. »Stay with Ukraine«, rieb mir Kollegin Habiba kürzlich, um eine Spende werbend, unter die Nase. Ein Kind bosnischer Flüchtlinge. Die Marković, Petrović, Vuković, Jovanović … waren längst da, als ich 1994 frühzeitig wieder in Österreich aufschlug. Ich war am Ende. Der Fight zwischen ewigem Licht und ewiger Finsternis schien entschieden. Das Mädel, keine zwanzig, Österreicherin. Kassiererin bei uns im Markt. Nur ihr Name erinnert an die Herkunft ihrer Eltern. An deren Vertreibung ich beteiligt war. Ihre Augen kenne ich nicht. Einen gefalteten Hunderter stopfte ich in den Schlitz der Box. Sich darin hörbar Münzen befanden. Wie billig sich manche ihr Gewissen freikaufen können. Hätte ich meine Wohnung, all mein Hab und Gut reingeworfen, wäre es nicht genug gewesen. Mit nichts kann ich meine Unbeschwertheit zurückkaufen. Mein Gewissen reingewaschen. Befreit, wie damals. Als Zeitsoldat. Mit Tanja. Dem Bike. Einer 35m²-Garconnaire. Meine egoistische Trennung samt beiderseitigem Herzbruch geschah ohne Begründung. Während … auch nachher … kein Signal meinerseits. Ich wurde ein anderer. Malträtiert von der Geräuschkulisse des Kriegs, wie andere von ihrem Tinnitus. Dem Baierl Karl sagte ich ab. Eltern wie Heimatort mied ich. Bloß ein Besuch. Abends. Im Dunkeln. Die Gehsteige hochgeklappt waren. Der Ort, bis auf die Gäste im Wirtshaus (das letzte seiner Art) und Glotzen-Anbetern, schlummerte. Trotzdem erahnte ich die bohrenden Stimmen: »Der Gruaber-Bua fährt einen Riesen-BMW!« Fragen wären gekommen. »Wo war er denn die ganze Zeit?« Ich bin nicht wie der Bruckner Peter alle paar Monate mit Uniform und blauem Barett selbstbewusst durch die Ortschaft spaziert. Von mir gäbe es keine Antworten. Für niemanden. Menschen nun mal Antworten brauchen, geben sie sich eher mit Fiktion zufrieden als mit Fragezeichen. Ahnten meine Eltern, wo … wie ich die beiden Jahre im Dunklen getappt war? Gewiss. Sie akzeptierten mein Schweigen. Stocherten nicht in meinem emotionalen Sumpf. Das Fremdeln ihnen gegenüber tat weh. Vaters Abschied – »Wir lieben dich und sind nicht deine Richter« – trieb mir Feuchte in die Augen. Welcher Ast immer für den Strick hätte herhalten müssen, ich war ihm sehr nahe. Nichts, niemand konnte meine Kaputtheit reparieren. Verdiente ich Hilfe? Mutter dürfte täglich gebetet haben: »Herrgott, lass den Buben am Leben.« Ob die Erhörung sich als Gefallen erwiesen hat? Ich kaufte eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Kagraner Plattenbau. Die Erkältungen fördernde Anonymität der Stadt erwies sich als Zuflucht. Sollte es bis heute bleiben. Die Wände, so oft ich sie strich … polarweiß … schneeweiß … arktisweiß … blieben rostrot. Aus den Hähnen – angeschlossen an das Wiener Hochquellwasser – floss Blut. Aufgewühlt verfolgte ich die Schauprozesse des UN-Tribunals in Den Haag. Stand ich auf einer Fahndungsliste? Wären die Botendienstfahrer (auch größtenteils Migranten, irgendwer aus ihrer Heimat gelockt, vertrieben hat) so zahlreich, so penetrant gewesen wie seit der Corona-Ära, mehrmals am Tag sämtliche Hausparteien durchläuten, um ihre Paketmassen an die Empfänger … oder Nachbarn … zu bringen, ich hätte auf Drogen zurückgreifen müssen. Sich auf dem Balkan bewährt hatten. Wenigstens eine Leidenschaft meines Vorlebens holte mich ab: Holz. Der Job in der Zuschnitt-Abteilung eines Baumarktes. Ich bekniete den versöhnlichen Geruch. Weniger das, was mittlerweile aus Holzabfall fabriziert wird. Ich privat häufig mit Cargo-Hose, Arbeitshirt oder Weste herumlief … störte meinen Arbeitgeber nicht. Das Firmenlogo war mein Versteck. Eine Art Uniform. Rot. Menschen sehen, was man zeigt. Jahre des Vegetierens. Verlernte das Reden. Lernte dafür Lesen. Sogar bei einem Selbstfindungsseminar … ja, habe ich probiert (es gibt keine Selbsthilfegruppe der anonymen Söldner). Menschen öffnen sich. Erzählen ihre Probleme … subjektiv gesehen banal … schluchzen, trösten sich … am zweiten Tag blieb ich den Leidenden fern. Was wäre mein Kummertext gewesen? Niemand darauf geachtet hat, die Glieder der Opfer noch zuckten. Ihre Gurgeln noch röchelten, als sie zu Massen in Gruben verschüttet wurden. Die Männer. Alle. Auch Knaben. Von den Frauen nur die alten. Die Jungen ereilte ein anderes Schicksal. Schrecklicher als das Los der Verscharrten! Die Zeichen hören nicht auf. Nicht jede Tat verblasst in der Nebulosität. Auf Lebzeiten eingebrannt. Ohne Recht auf Weichzeichnung. Die Scharfrichter warten. Sie sind geduldig. Lassen ihre Opfer schmoren. Erst Natascha, ihre ansteckende Affirmierung des Lebens, wehte nach Jahren der Tristesse einen Hauch von Entschärfung herein. Wird der Teufel irgendwann müde? »Warum bist du abgehauen?« Einen beträchtlichen Teil der Ewigkeit starrte Yegor ins Leere. Glasige Augen unter von Denkfalten zerfurchter Stirn. Deutschlehrer aus Kiew. Mein einziger Gast, mit dem ich ohne Nataschas Übersetzungshilfe plaudern konnte. »Du fragst, was ich mich immerzu selber frage. Was wiegt mehr? Familie oder Land? Ich habe drei Kinder. Wollen sie einen Märtyrer oder einen Vater? Frag sie!« Habe ich nicht. Anstelle der vorhersehbaren Antwort organisierte ich Sim-Karten bei einem hiesigen Anbieter. Nun unterschieden sich diese Jugendlichen kaum vom Rest jener des zivilisierten Europas. Yegor und ich quatschten wie beste Freunde. Mir gefiel seine Aussage: »Ich kämpfe nicht gegen meine russischen Brüder. Die ukrainische Politik hat versagt. Die russische Politik hat versagt. Beugten sich dem Druck internationaler Interessen – dominiert von Macht und Geld. Ich lasse mich weder schlachten, noch bin ich bereit, Brüder zu töten. Ich bin nicht das Mordwerkzeug der Verfechter einer neuen Weltordnung. Es geht in diesem Konflikt nicht allein um die Ukraine. Es geht um die globale Herrschaft über die Erde.« »Wirst du zurückkehren?« »Natürlich. Es wird nicht mehr diese Heimat sein, die wir verlassen mussten. Aber in der Ukraine sind meine Wurzeln. Wir werden genug zu tun haben.« Warum … wie viele Sternschnuppen eines Abends den Orbit meines kosmischen Gewissens perforierten, nenne ich Mysterium. Yegor und ich wurden mit wenigen Jahren Abstand am selben Tag geboren. Unsere Geburtsorte Kiew und Krems verbindet immerhin das ›k‹ und dritte ›e‹. Mehr Astronomisches will ich da nicht reininterpretieren. Aber mich … ja ausgerechnet mich großzügig und offenherzig zu nennen … ein Ventil platzte. Warum wollte ich gerade ihn vom Gegenteil überzeugen? Worte flossen wie … der Vergleich bleibt aus. Es gibt keinen. Balkan! Das erste Mal war ich in bluttriefender Reue freiwillig zurückgekehrt. Yegors Betroffenheit aufgelegt. »Wären wir perfekt, wären wir nicht mehr hier! Schlechte Taten als solche zu erkennen, daraus zu lernen, das zeichnet einen Menschen aus. Jetzt stehst du auf der guten Seite. Mag sein, mit zwanzig wäre ich auch geblieben. Hätte zur Waffe gegriffen. Heute sind wir reifer. Lassen uns nicht mehr so leicht missbrauchen.« Reden mit Yegor … gefühlt wie beichten … war befreiend. End of war? Zu spät bemerkte ich Natascha. Ihre spitzen, durch die Leggins durchscheinenden Knie angezogen – wie sie das oft tut –, kauerte sie während dieses Gesprächs hinter meinem Rücken auf der Couch. Still. Verdauend. Bis mir das Plätschern ihres Mitgefühls in Herz und Ohren drang. Sechzehn Tage ukrainisch/österreichischer Gastfreundschaft … Abschied. Natascha fand für die fünfköpfige Familie ein Langzeitquartier. Yegor übergab mir ein sperriges Teil, eingewickelt in ein von Malfarben bekleckstes Tuch. Mit den Worten: »An euren strahlend weißen Wänden ist Platz für ein Symbol des Friedens. Mein Bruder war Maler. Und Seher. Viele seiner Gemälde sind – so wie er – bei einem Bombardement verbrannt. Stay true to yourself, Nikolaus.« Das Aquarell, ich Tage vorher noch als Kitsch abqualifiziert hätte, zeigt den Hafen von Odessa, die Weiten des Schwarzen Meeres, eine Schar weißer Tauben. Die Konturen der Vögel, so gestochen scharf, als wollten sie aus dem Bild heraus, dem Betrachter entgegenflattern. Ins Gewissen. © 2024 Siegfried Schwartz

Mein Dank an die Stadtgemeinde Feldbach für die Auszeichnung und Publikation meiner, das Thema Migration reflektierenden, Kurzgeschichte:

NICHT VON HIER

im Rahmen des Literaturwettbewerbs.

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Nicht von hier

13. Februar 2024. Die Gravur ist frisch. Die Schleifen belebt der Wind. Zu zart, den Staub der Steinfräse vom Sockel ins Nichts zu verwehen. Nachtfeuchte formte ihn wie eine mehlige Brotkruste. Harrend auf Regen. Oder Schnee, der noch kommen soll. Ruhe in Frieden. Der Nachname fehlt. Seiner. Es war ihm nicht wichtig. Er erhob keinen Einwand. Er ist nicht von hier. Vor fünf Jahren kam er über die Grenze. Im Gepäck: Furcht vor dem Neuen. Sorge um das Vertraute. Ein Niemand, wie Millionen andere, die kaum wer wollte. Kaum wer brauchte. Jetzt ist er Österreicher. Gelernter Tischler. In seiner Bude zur Hälfte Zuagraste. »Die Hiesigen lieber stempeln gehen und nebenbei pfuschen«, motzt der, den sie Master nennen. Auch die Art Sprache hat er drauf. Die Arbeit riecht wie daheim. Vater war Holzschnitzer. Zauberte Figuren für Touristen. Kam er aus der Stadt mit leerem Sack, gab Mutter Geld, war er zufrieden, aber mürrisch. Kam er mit wenig oder gar keinem Geld, legte die Kunstwerke wieder ins Regal, schien er unzufrieden, aber glücklich. Die Kunst, von Herzen geschöpft, ist ein leidiger Broterwerb. Wohl in jedem Land. Zu jeder Zeit. »Where you come from?« Er verstand. Gab Antwort. Auf dem Schiff, von Satelliten aus betrachtet aussehen musste wie eine aufgerissene Sardinendose, wurden sie instruiert. Man sagen soll. Nicht sagen darf. Im Schlaf fanden fremde Finger einige seiner Dokumente. Alle wollten nach Germany. Österreich war ihm unbekannt. Hatte Brauchbareres gelernt als die Geografie von Europa. Was zählt ein Ziel, man auf äußere Umstände null Einfluss nehmen kann? Zwischen Italien und Deutschland liegt nun mal dieses Land. Tage nach Ankunft entsperrte ein Dolmetsch seinen Laptop. Ein freundlicher Herr. Wenige Haare, aber viele, viele Fragen für digitale Formulare. Er sprach über Zahlen, Quoten und Planlosigkeit der Behörden. Mahnte ihn der Geduld und Ruhe. Das Lager war voll. Als Pulverfass negiert wie bei der Verbunkerung von Atommüll. Männer bildeten Rotten. Gemäß Nationalitäten. Die wenigen Frauen wirkten besorgt. Ihre Kinder verstört. Kamen Fotografen, riefen sie Trauer und Schutzbedürftigkeit nach vorne zum Zaun. Nicht immer. Der Glatzkopf kam erneut. Sagte: In seinem Heimatland sei es zu bürgerkriegsartigen Ausschreitungen gekommen. Er dürfe bleiben. Sein Asylverfahren Formsache. Deutschland steht in den Sternen. Die Sprache hier sei dieselbe, hieß es. Er sollte lernen und abwarten. Egal. Er wollte sowieso zurück. Sobald wieder Ruhe herrschte. Daheim. Ihn hatte es nicht in die Fremde gezogen. Gegraut vor andersartiger Kultur. Die Eltern hatten ihn weggeschickt. Den Obolus für die Flucht geliehen. Später schickte er Geld. So viel wie möglich. Leben in Österreich ist teuer. Er hat sich daran gewöhnt, eine Pizza umgerechnet so viel kostet wie ein Wochenlohn eines Arbeiters in der Heimat. Er war bereits auf dem Meer gewesen. Vermeintliche Sicherheit, als Aufständische mit zugeschobenen Waffen aus bekannten Kreisen und Interessen über die Dörfer herfielen. Kämpfer rekrutierten. Nichtkämpfer exekutierten. Auch den Vater. Weil zwei seiner Söhne bei der Republikanischen Armee dienten. Er, der dritte, getürmt war. Die Alte steht unweit von ihm vor ihrem polierten Stein. Schwarz verkleidet. Wie die Krähen, die Abstand halten. Traditionelle Tracht des Trauerjahres. Sich zum elften Mal jährt. Verrät ihm das Datum im Vorbeigehen. Sie wirkt verbittert. Noch immer? Wird sie lernen, irgendwann loszulassen? Er hört sie murmeln. Ein Gebet? Ihr Haupt ist bedeckt. Verhüllt wie muslimische Frauen hier im Land. Sie ist Christin. Von Hand baumelt ein Rosenkranz. Ihr Blick fixiert ihn. Wie gestern. Vorgestern. Alle vier Tage er diese Morbidität aufsucht. Sie wohl auch morgen. Wie Verwalter, Gärtner und Tauben. Sie kennt die Familie. Weiß um die Schande der Tochter. Ihr Unglück Gottes gerechte Strafe? So hat man es sie gelehrt. Er spürt Verachtung. Denn er ist nicht von hier. Busse parkten vorm Lager. Bewacht wurde der Aufruhr. Teils von uniformierten, bewaffneten Frauen. Befremdend. Das Missfallen einiger angesichts des Affronts rief sichtbar nach geheiligter Eroberung und mehr … denn nach dem Wunsch nach sanfter Integration. Wehe, wenn sie losgelassen. Die eingezäunte Asphaltpiste führte die Busse nach Wien. Dort bezog er Quartier. Die Ausdehnung des Gebäudes enorm. Abnorm. Viele Türen. Viele Fremde. Wand an Wand. Sein Aufenthaltsrecht auf drei Jahre befristet. Er erhielt ein Smartphone und Geld. Ohne Dunst hinsichtlich des Wertes. Der Betreuer sprach Englisch. Die Kenntnisse der drei Afghanen, mit denen er das Zimmer vierteilte, endeten bei Germany. Kein »Thank you«. Sie durften sich nun frei bewegen. Er irrte durch die weitläufige Enge dieser Stadt. Seine Gedanken lungerten zu Hause herum. Sehnten sich beharrlich nach Familie und vertrauter Welt. Deren Zerstörung stattfand. Seine erste Empfindung, wie ein Anker im suspekten Terrain Halt fand, griff nach ihr. Der Raum war halb gefüllt. Männer. War er der einzige, der seine Triebe im stillen Respekt verwahrte? Er erschrak vor dieser Fonetik. Ein Labyrinth schwer nachzuahmender Laute. Der Schlüssel zur Offenheit war ihre Stimme. Ihre ambitionierte Liebenswürdigkeit. Nett zu allen. Es störte ihn. Den meisten fehlte es an Achtung. Auch vor ihrem Kollegen, der gefühlt vom Pädagogen zu ihrem Bodyguard mutieren musste. Er lernte ihre Sprache. Seine Leistung belohnende Blicke als Ansporn. Begierig saugte er Vokabel auf, die sich über ihre Lippen schmiegten. Nach deren Berührung er sich sprachlos verzehrte. Übungen klangen wie Mantras. Schliffen sich in sein Innerstes. Er sinnierte, wie sie zu Hause seine Arbeiten korrigieren würde. Gedanklich bei ihm. Wochen der Bedeckung seiner Gefühle, sich exponentiell in Fortschritte ummünzten … dann schrieb er ihr die Offenbarung, sie unkorrigiert mit »Schön geschrieben« beantwortete. Bald zog er sein Begehren der Weiterreise ins Germanische zurück. Anderes Begehren belebte sein Dasein. Seine Schuhe kleben im Gatsch. Pflanzliches vom nächtlichen Regen stark niedergedrückt. Pfützen spiegeln den Himmel auf Erden. Flüchtig. Was meint die Natur, auf diesem Planeten an Unrat ertränken zu müssen? Sintflutartige Kapriolen als Beginn eines irdischen Reinigungsprozesses? Der Staub vom Sockel ist fortgespült. Heute bringt er die fünfte rote Rose. Für jedes Jahr ihrer Liebe. Was sagen Rosen, andere Blumen nicht auszudrücken vermögen? Zauber oder bloß Imagination? Den Stiel der sechsten Rose presst er in der Faust. Sein Empfinden konzentriert sich auf brennenden Schmerz. Blut tropft. Letzte symbolische Tränen. Diese Rose ist gelb. Sein Lichtblick. Für das Leben, sie – so gewaltig wie Eruptionen der Sonne – in seinem Beisein gebar. Er steckt das Paar zu den Rosen in die grünspanige Vase. Drapiert Gelb ins Zentrum. Der Fruchtknoten kurzer Leidenschaft. Er geht. Ein letztes Mal vorbei an der Alten Argwohn. Und wird Leute wie sie nicht vermissen. Deren Religion. Von Erbsünde auferlegte Unterwürfigkeit gegenüber den über Sünden Erhabenen. Heuchelei zwischen Frömmigkeit und moralischer Verwahrlosung. Stößt ihm auf wie die polemische Diskreditierung des Zorns sowohl angestammter als auch bereits integrierter Bürger gegen die gezielte Unterwanderung Österreichs. Auch Deutschlands. Deren schändliche Geschichte hat man ihm erzählt. Jeder erzählt sie anders. Er hat gerechnet. Bald hundert Jahre vergangen. Wie viele Generationen, die weder gejubelt noch gelitten haben? Tausendjährige Schuldigkeit. Auch Erbsünde? Es gab Streit. Erstmals nach vier Jahren. Dafür heftig. Ihr Job fehlte ihr. Nach der Karenzzeit wollte sie wieder unterrichten. »Ohne Sprache haben diese armen Menschen keine Chance auf Integration.« Er höhnte: »Nicht alle der Armen, die kommen, sind gute Menschen.« Er fühlte Angst. Sie nannte ihn egoistisch. Eifersüchtig. Fast hätte er in seiner Wut zugeschlagen. Das Kind weinte. Verhinderte dieses Unrecht. Teilte es die Sorge um die Mutter? Er sprach ein Verbot. Sie lachte nur. Die Urkraft der Mütter war ihm nicht fremd. Doch ihr Recht auf Eigenständigkeit durfte er hier lernen. Ihr Vater argumentierte klüger. »Vor der Nationalität steht immer der Charakter. Zu viele dieser Migranten achten Kultur und Werte nicht. Der Kollaps droht.« Mutter stärkte ihre Verbissenheit im Eigennutz. Und er? Er zweifelte an ihrer Liebe. Welch Schuldigkeit stülpte sie sich über? Humanität als Selbstaufopferung? Er bloß die Personifizierung ihres Edelmuts gegenüber aller Fremdartigkeit? Gutmensch als Kontrast zur Kritik an verzerrter Flüchtlingshilfe. Er hat sie von ihren Kursen abgeholt. Stets in der Finsternis bewahrt. Nicht an diesem Dienstag. Die Kleine war krank. Sie versprach, ein Taxi zu nehmen. Eine Stunde warten … er rief die Eltern. Hilfe! Die Uniformierten läuteten vorher. Er las ihre Gedanken. Sah das Staunen in ihrer Pflicht, diesen Ehemann zu erschüttern. Er ist nicht von hier. Eine Halbwaise brüllte im Hintergrund. Die Medien blieben leise. Er nimmt den Landweg. Die Eisenbahn. Ein Schiff. Gereifter, als er gekommen ist. Hier bleibt seine verstorbene Liebe. Mutter braucht ihn. Der verbliebene Bruder schnitzt. Er kann nicht gehen. Minen rissen ihm die Beine vom Leib. Metalldetektoren gehören dort zum Inventar wie hier die Mikrowelle. Er kann schreiben. Die Mutter kann nicht schreiben. Sie kann singen. Er vermisst ihre wunderschöne Stimme. Ein Jahr kein Ton. Dann kaufte sein Bruder ein Telefon. Vom Geld, das er schickte. Die Schulden samt Zinsen getilgt waren. Nun kehrt der Baum heim zu seinen Wurzeln. Sie allein hat ihn gehalten. Zerrissen. Er hat nie gefragt, ob sie bereit wäre, mit ihm zu gehen. Die Antwort wusste er. Ohne sie hat dieses Land für ihn keinen Wert. Hat er für das Land keinen Wert. Man sagt: »Die sollen zuerst einmal unserer Sprache lernen.« »Besser als so manch Einheimischer.« Lobte ihn Schwiegervater. Selten. Schwerlich übergab er die einzige Tochter in Weiß vorm Altar. Einem Fremden in Schwarz. Es wurde geredet. »Er ist nicht von hier.« Österreich hat ihn aufgenommen. Menschen haben ihn aufgenommen. Sogar angenommen. Einige. Doch beherrschst du ihre Sprache, finden sie andere Gründe, dich abzulehnen. Du darfst nicht herausragen. Wenn du nicht von hier bist. Es beschämt das ansässige Mittelmaß. Nationalismus liegt im Blut. Und versiegt mit dem letzten Atemzug. Er zerrt den klappbaren Kinderwagen aus dem Kofferraum. Großvater lässt die Fahrertür offen. Als klare Botschaft. Nein, er quält sich nicht mit zum Bahnsteig. Die Kameraaufnahmen öffentlicher Trauer enden hier. Schweigend verlief die halbstündige Herfahrt. Was will man noch reden? Über Schuldgefühle? Beide meinen, in ihrer angestammten Beschützerrolle mannskräftig versagt zu haben. Emanzipation stößt gemäß archaischen Prägungen an ihre Grenzen. Das Kind streckt Opa lächelnd die Pfötchen entgegen. Er hebt es aus dem Kindersitz. Seine emotionale Beherrschung presst ihn ans Limit. Zärtlich streicht er der schwindenden Enkelin durch die Krause. Lässt sie in den Buggy plumpsen. Macht er oft. Sie kichert. Omas Trauer über den Verlust aller Nachkommenschaft versteckt sich daheim. Leiden hat ein Ablaufdatum. Unbekannt, aber bestimmt, sofern man dem Ziel eines holprigen Weges vertraut. Vater klopft ihm auf die Schulter. Es gab nie mehr an Berührung. Er ist nicht von hier. »Wir sehen uns.« Blicke sagen die Wahrheit. Virtuell, vielleicht. Den Rucksack geschultert … und wieder Flucht. Die inszenierte Weltenorgie systemischer Entwurzlung krallt ihn erneut. Er denkt: verscheucht, verschleppt, verjagt … bald ist niemand mehr irgendwo daheim. Er geht gern. Er spürt sie … die Disbalance im Land. Grundstein jeder Eskalation. Politische Labilität greift um sich. Mit dem Würgegriff um die Freiheit aller Bewohner. Wie einst in seiner Heimat. Gewalt liegt zuhauf angeschnitten in der stickigen Luft. Angespannt wie ein Bauch kurz vor Entbindung. Er schnallt die Kleine fest. Er kann sie der Großmutter zuliebe nicht hierlassen. Mit der angeborenen Hälfte des Fremdlings. Nicht in der Zeit, die da kommen mag. Seine Michaela-Nala. Die leibliche Hinterlassenschaft seiner Liebe. Hierzulande stellt der Name Michaela die Frage nach Gott. Zu Hause ist Nala die Löwin. © 2024 Siegfried Schwartz

Siegfried Schwartz

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